Entrevista al diari Spiegel: “Die Katalanen fühlten sich erniedrigt”
Entrevista de Helene Zuber
Ihr Vorbild sind die Schotten: Hunderttausende wollen am Donnerstag in Barcelona für die Abspaltung Kataloniens von Spanien demonstrieren. Im Interview spricht der Soziologe Salvador Cardús über die Stärke der Unabhängigkeitsbewegung.
Salvador Cardús, 60, ist spanischer Soziologe. Er lehrt an der Autonomen Universität Barcelona und gehört zu einem von der katalanischen Regierung gegründeten Beraterstab, der den Weg Kataloniens in die Unabhängigkeit begleiten soll.
Cardús: Zapatero war, glaube ich, ernsthaft für eine Entwicklung in Richtung Föderalismus, aber seine Partei wollte nicht mitziehen. Die Verhandlungen der katalanischen Politiker mit dem Madrider Parlament verliefen desaströs. Sie konnten sich nicht durchsetzen. Die Katalanen merkten, dass ihre Vertreter machtlos waren. Dadurch erodierte aber auch die Glaubwürdigkeit der Zentralregierung gewaltig.
SPIEGEL ONLINE: Dennoch stimmte die Mehrheit der Katalanen selbst der verwässerten Landesverfassung zu. Warum gaben sich Ihre Landsleute nicht zufrieden?
Cardús: Eine gewisse spanisch-zentralistische Elite nutzte das Scheitern der katalanischen Wünsche aus, um die politische Klasse Kataloniens zu erniedrigen. Die konservative Volkspartei erfand antikatalanische Kampagnen und reichte Klage beim Verfassungsgericht ein. Das erklärte schließlich 2010 die wichtigsten Passagen der Reform für verfassungswidrig. Aber auch Sozialisten, wie der frühere Vizeparteichef, beleidigten unsere Würde. “Wir haben die Reform gehobelt, nichts ist übrig geblieben”, tönte er. Und der Bürgermeister von La Coruña behauptete, in Katalonien würden spanische Schulkinder wie Juden behandelt.
SPIEGEL ONLINE: Und dieses despektierliche Geschwätz nahm man in Katalonien ernst?
Cardús: Es gibt sehr spannende Untersuchungen darüber, was kollektive Erniedrigung mit Völkern anrichtet, wie sie Feinde schafft. Die Katalanen fühlten sich ähnlich schlimm erniedrigt wie die Deutschen nach demErsten Weltkrieg durch die Versailler Verträge. Plötzlich wollten sich die Menschen hier nicht mehr abfällig behandeln lassen.
SPIEGEL ONLINE: Die wirtschaftskonservative, gemäßigt nationalistische CiU-Regierung betonte lange schon die Opferrolle. Die Katalanen müssten zu viel Steuer an Madrid abgeben und sie erhielten zu wenig Investitionen. Trug das Dauergejammer nicht zu den Minderwertigkeitskomplexen bei?
Cardús: Die Opferhaltung diente der Regierung in Barcelona lange als Rechtfertigung für ihre Ohnmacht gegenüber Madrid. Aber ab 2006 etwa wollten die Katalanen nicht länger Opfer sein. Statt in Depression zu versinken, handelte die Zivilgesellschaft, indem sie sich von der traditionellen Politik distanzierte.
SPIEGEL ONLINE: Wäre diese Entfremdung nicht aufzuhalten gewesen?
Cardús: Wenn es in Spanien Verständnis für die Situation gegeben hätte, schon. Aber damals setzte besonders in den Dörfern auf dem Land eine Bewegung für die Unabhängigkeit ein. Das waren nicht mehr junge Männer in Kapuzenshirts. Der Diskurs war freundlich. Indem der Akzent auf soziale Gerechtigkeit und Wohlstand gelegt wurde, beteiligten sich auch Frauen und ältere Bürger. Diese Initiativen sind der CiU längst aus dem Ruder gelaufen. Zwischen September 2009 und April 2010 wurden in 550 Dörfern nicht bindende Probeabstimmungen über die Unabhängigkeit durchgeführt. Dadurch haben sich die Menschen vernetzt. Zwei kultivierte Frauen führen das Unabhängigkeitslager an und organisieren Massendemonstrationen wie die am 11. September, zum Nationalfeiertag Kataloniens, der Diada.
SPIEGEL ONLINE: Was passiert, wenn die Volksbefragung nicht stattfinden kann oder wenn die Mehrheit sich gegen die Loslösung vom Königreich ausspricht? Wird die Unabhängigkeitsbewegung in Gewalt umschlagen?
Cardús: Bislang verliefen selbst die Demonstrationen, wie die 480 Kilometer lange Menschenkette letztes Jahr, absolut friedlich. Die meisten Katalanen würden Gewalt nicht unterstützen. Wir wissen ja, dass das Referendum ohnehin nicht bindend wäre. Klar wäre die Frustration groß. Aber keiner bezweifelt, dass eine vorgezogene Regionalwahl, die legal wäre, als Plebiszit dienen könnte.